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Kranichsteiner Literaturpreis 2019 an Nora Bossong

Der vom Deutschen Literaturfonds vergebene und mit 30.000 Euro dotierte Kranichsteiner Literaturpreis geht in diesem Jahr an Nora Bossong. Er wurde am 6. Dezember 2019 um 19:00 Uhr im Theater Moller Haus in Darmstadt verliehen.

Die Laudatio hielt der Journalist Alexander Cammann.

Preisverleihung 2019

Kranichsteiner Literaturförderpreis

Den Kranichsteiner Literaturförderpreis erhielt Katharina Mevissen für einen Text mit dem Titel "Mutters Stimmbruch". Der Förderpreis ist mit 5.000 Euro dotiert. Mit dem Preis der Schülerjury wurde Karoline Menge ausgezeichnet. Für ihren Text "Schischuri" erhielt sie ein Preisgeld von 1.000 Euro. Nominiert und zur Wettbewerbslesung eingeladen war außerdem Helene Bukowski, die sich mit dem ebenfalls sehr beeindruckenden Text "Die Kriegerin" bewarb. Alle drei Kandidatinnen hatten sich am 6. Dezember um 11:30 Uhr den beiden Jurys gestellt. In einer öffentlichen Lesung in der Eleonorenschule in Darmstadt trugen sie ihre jeweils noch unveröffentlichten Textauszüge vor.

Aufenthaltsstipendien

Die Jury hat weiterhin zwei Aufenthaltsstipendien des Deutschen Literaturfonds vergeben:

Das 10-wöchige Aufenthaltsstipendium im Deutschen Haus der New York University erhielt in diesem Jahr der in Berlin lebende Autor Jan Brandt.

Das ebenfalls 10-wöchige London-Stipendium an der Queen Mary University sprach die Jury Norbert Zähringer zu, der ebenfalls in Berlin lebt.

Alle Preise wurden am 6. Dezember um 19 Uhr im Darmstädter Moller-Theater überreicht.

Begründung der Jury

Nora Bossong schreibt Romane, Gedichte, Essays und Reportagen – und ist in all diesen literarischen Genres eindrucksvoll zu Hause. In ihrem Gedichtband Kreuzzug mit Hund beschwört sie nicht zuletzt die europäische Idee, in ihrer literarischen Reportage Rotlicht erforscht sie einen Bereich, zu dem Frauen keinen Zugang haben, in ihrem (im kommenden Herbst erscheinenden) Roman Schutzzone geht es nicht nur um das 'Zögern in vielen Abstufungen', das das Leben einer jungen Mitarbeiterin der Vereinten Nationen in Genf bestimmt, vor allem dreht sich hier alles um eine grundsätzliche literarische Frage: 'Sucht man sich ein Leben aus? Oder lebt man es nicht eher?' Die Jury des Kranichsteiner Literaturpreises ist beeindruckt von der Virtuosität und literarischen Klugheit dieser 1982 in Bremen geborenen, in Berlin lebenden Autorin.

Begründung der Jury, der Bettina Fischer, Manuela Reichart und Wilfried F. Schoeller angehören

Laudatio auf Nora Bossong

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Jury, liebe Autorinnen und Autoren, liebe Nora Bossong,

es gibt ein altes Mysterienspiel in der Literatur, wonach es als Leser darauf ankomme, den einen, alles entscheidenden Satz in einem Buch aufzuspüren, mit dem es sich erklärt, jenen Satz, mit dem man hinter das Geheimnis dieses Buches kommt. Natürlich klingt das jetzt ein wenig kabbalistisch, und niemals würde ein Autor einen solchen magischen Satz von sich aus preisgeben (so er ihn denn überhaupt kennt - das Werk ist, wie wir schließlich wissen, immer klüger als seine Autorin). Also liegt es immer an den Leserinnen und Lesern, diesen Satz aufzuspüren – vielleicht versuchen Sie es gelegentlich einmal!

In Nora Bossongs großem, vor wenigen Monaten erschienenen Roman Schutzzone fällt er auf Seite 124. Zitat: „Ihr habt den ganzen Kontinent in eine Geschichte verwandelt.“ Das sagt Zacharie, ein Einheimischer, der die Heldin des Romans, Mira Weidner, durch ein Flüchtlingslager in Osten Kongos führt. Er unterstützt sie dort bei ihrer Suche nach Zeugen für eine Wahrheitskommission, die die UNO im Nachbarland Burundi installieren möchte. „Ihr habt den ganzen Kontinent in eine Geschichte verwandelt“: Der sarkastische Satz fällt, nachdem Maria glaubt, von einem Flüchtlingsjungen phantasievolle Unwahrheiten über sein entsetzliches Schicksal aufgetischt bekommen zu haben. Plötzlich also steht mit diesem Satz die ganze Tragik im Raum, die das Verhältnis des Westens zu den afrikanischen Ländern prägt. Mit kühlem Blick analysiert hier Zacharie die blinden Flecken noch bei den wohlmeinendsten westlichen Helfern, die ehrlich und engagiert Not, Verbrechen und Hoffnungslosigkeit bekämpfen wollen.

Es gibt ja dieses westliche Bedürfnis nach Geschichten, um das schwer Verständliche für sich begreifbar zu machen. Und prompt führt uns Bossong in die Untiefen des Verstehenwollens, weil es ja oft unser eigener Blick ist, der die Grenzen des Verstehens gar nicht durchdringen kann, sie womöglich gar zementiert. Mira Weidner, eine deutsche UNO-Mitarbeiterin, Mitte 30, hat jedenfalls aus ihrem stillen, zähen, fast schlafwandlerischem Drang nach Geschichten ihre Mission gemacht, die Welt vielleicht doch zu einem besseren Ort zu machen. Aber würde sie selbst überhaupt so weit gehen in dieser Diagnose? Vielleicht ist es doch eher so, dass sie gar nicht anders kann – ob in Burundi, Genf, Den Haag oder New York. Mira ist eine umgekehrte Scheherazade, wie es einmal heißt, der die Menschen ihre Geschichten seltsam rückhaltlos erzählen – und leider auch der eitle intellektuelle Schwadroneur Milan, ein alter Jugendfreund, verheiratet, mit dem sie eine sinnlose Affäre beginnt.

Nora Bossong ist mit diesem Roman etwas Besonderes geglückt: ein politischer Roman aus den dramatischen menschlichen und moralischen Konfliktzonen von heute, dazu mit einer modernen Frauenfigur im Mittelpunkt, die auf ihrer Suche nach einem gangbaren Pfad durch den persönlichen Dschungel ist. Die erzählerische Intelligenz der Autorin zeigt sich hier daran, dass sie die einfachen, plakativen Antworten verweigert. Sie hat eben keine Anklageschrift gegen den Westen in Romanform verfasst oder noch einmal lautstark Gerechtigkeit für einen geschundenen Kontinent gefordert. Vielmehr durchwandert sie den mühseligen, oft hoffnungslosen Alltag des Politischen, mit einem melancholischen Blick auf die Realität für alle Akteure, dabei klug genug zu wissen, dass es Veränderungen leider nur im Kampf um jeden kleinen Schritt gibt, in Burundi oder in Genf. Es kommt eben darauf an, mit Tragödien umgehen zu lernen. Und denjenigen, die sich diesem alltäglichen Kampf um ein bisschen Humanität stellen, wird in diesem Roman ein unheroisches Denkmal gesetzt.

Einen ganzen Kontinent in Geschichten verwandeln: Man darf dabei nicht übersehen, dass das bei alledem auch eine Aussage über den Job einer Schriftstellerin ist – und vielleicht ist das der Grund, warum man diesen Satz auf Seite 124 als Schlüssel zum Werk lesen kann. Ist es denn überhaupt legitim, solche ästhetische Zurichtung und künstlerische Verwandlung eines Stoffes? In dem sie diesen Satz in einen Roman schreibt, beantwortet die Schriftstellerin die Frage mit einem Ja, stolz, aber ohne Triumphalismus.

Die vielen Rollen von Nora Bossong mit ihren bisherigen Werken sind schon erstaunlich – (und es ist auch nicht verwunderlich, dass ihre Kollegin Nora Gomringer sie 2015 in eine namensgleiche Figur in einer kleinen Erzählung verwandelt hat). 1982 ist die reale Nora Bossong in Bremen geboren. Dort und in Hamburg aufgewachsen, wurde sie früh zur Schriftstellerin mit bislang 5 Romanen, sie war 24, als ihr erster erschien, Gegend, hochgelobt. Zugleich ist sie Dichterin, deren Lyrik und Gedichtbände ebenfalls vielfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Und dann wäre da, vielleicht heute am ungewöhnlichsten, die politisch engagierte Autorin, deren Essays, Kommentare und Reportagen in allen großen Zeitungen gedruckt werden – immer wieder ist man dabei verblüfft über die politische Reflektiertheit, Sicherheit und Urteilskraft, ihr großes Interesse an der politischen Sphäre. Nora Bossong wendet sich nicht ab im Widerwillen oder mit Schaum vor dem Mund, wie es unselige deutsche Tradition ist – vor einhundert Jahren ebenso wie auch heute unter vielen Generationsgenossen von ihr. Sondern sie ist mit leidenschaftlichem Blick dabei, „Betrachtungen einer Unpolitischen“ wird es von ihr höchstwahrscheinlich nicht geben, die Republik ist bei ihr auch eine Aufgabe für Schriftsteller.

Und manchmal auch für die Dichterin, in angemessen poetisierter Variante als Zeitgedicht: in ihrem jüngsten Gedichtband Kreuzzug mit Hund findet sich unter anderem der Zyklus Altes Neues Land über Israel, Jerusalem und Tel Aviv, ebenso wie der programmatische Auftakt des Bandes Ach Europa: „Ach Europa, auch nur dieses kleine gerüttelte Wiesending, Königstochter mit panischer Angst vor Stieren, wer nimmt ihr das übel nach alldem. Kriege hatte sie wie andere Leute Erkältungen.“ Unverkennbar hört man nicht nur im Titel eine sanft ironische Hommage an Hans Magnus Enzensberger, bis zum Schluss über die Königstochter namens Europa: „Wir muntern sie auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr.“

Wenn man nach den wesentlichen ästhetischen Merkmalen im Werk von Nora Bossong sucht, so stößt man unweigerlich auf ihren ganz speziellen Sinn für das Fragile, die Unsicherheit, das Suchende. Alle ihre Romane kann mal als Versuchsanordnung für die Verstörungen der modernen menschlichen Existenz in der realen Welt lesen: eine Patchwork-Familien-Konstellation in Gegend, ein Diplomat während der NS-Zeit und nach 1945 in Webers Protokoll, in Gesellschaft mit beschränkter Haftung die Krise eines Familienunternehmens und im Verhältnis zwischen Vater und Tochter, Luise und Kurt Tietjen, in 36,9 Grad Liebe und Kampf des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Und manchmal gibt es in ihren Büchern dieses seltsam leichte Schweben der Figuren, die wie Mira Weidner durch die Realität wandeln.

Im Roman Schutzzone gibt es eine weitere Stelle, die einiges über das verrät, was die Schriftstellerin Nora Bossong umtreibt. Es redet Sarah, eine Freundin und Kollegin Miras in Burundi. Zitat: „Wir erzählen unser Leben. Wir erzählen das Geheimste, das Intimste, als müssten wir beweisen, dass es uns tatsächlich gibt. Wir erzählen, ja, aber warum eigentlich? Weil wir einander vertrauen oder weil wir einander nicht vertrauen?“ Zitat Ende, Auch hier also wieder eine Skepsis gegenüber dem Erzählen, weil dessen Urgrund so geheimnisvoll ist. Aber was wäre die Alternative? Wir können ja gar nicht anders, so lautet die Botschaft des Romans – Nichterzählen ist auch keine Lösung. Denn das Erzählen und das Erzählte ist eben auch eine „Schutzzone“, in diesem Roman und generell. Es ist jener Raum, der diese Welt erst zu einem Ort macht, an dem man günstigstenfalls überleben kann. Das Buch ist insofern auch eine hochreflektierte, skeptische Beschwörung des Erzählens.

Nora Bossong glaubt an die Erzählbarkeit der Welt. Sie bleibt eine Scheherazade, die Geschichten aufspürt, erfindet und weitergibt – und unsere Kontinente in Geschichten verwandelt. Es ist den Leserinnen und Lesern zu wünschen, dass dieser Glaube, diese Mission weiterhin so lebendig und schöpferisch wirkt wie bisher. Dafür haben wir bislang allen Grund zum Dank: Herzlichen Glückwunsch zum Kranichsteiner Literaturpreis, liebe Nora Bossong!


Dankrede von Nora Bossong

Sehr geehrte Damen und Herren,

auch wenn dies ein Literaturpreis ist, gestatten Sie mir, mit einem Aphorismus zu beginnen, der keine große Literatur ist, dafür aber womöglich literally, nämlich buchstäblich Geltung besitzt. “Direitos Humanos são para humanos direitos.” Dieser Satz, in mehr schlechtem als rechtem Portugiesisch von mir wiedergegeben, beschäftigt mich seit einer Weile, seitdem ein Freund mir davon erzählte. Übersetzt aus dem Portugiesischen heißt er soviel wie: Menschenrechte sind für rechte Menschen, oder: für rechtschaffene, für passende, für die richtigen Menschen.

Menschenrechte für rechte Menschen. Was aber ist das denn, der rechte, richtige Mensch? Geäußert hat diesen Satz jedenfalls der brasilianische General Augusto Heleno in einem Interview im Oktober vergangenen Jahres. Heleno war unter anderem für den UN-Blauhelmeinsatz in Haiti verantwortlich, so kamen wir auf ihn. Mein letzter Roman Schutzzone war gerade erschienen, wir saßen im Hamburger Frühherbst bei einem Bier zusammen und sprachen darüber, was diese Weltinstitution namens UN noch sein könne, und was aus all den Hoffnungen geworden sei, für die diese Institution steht oder eben stand.

Ihre Blauhelme nennt man auch Friedenstruppen und sie könnten unseren, ich glaube, allgemeinmenschlichen Wunsch nach Frieden verkörpern, eine Art Engelsheerscharen für eine Zeit, in der man zu genau weiß, dass Engel immer wieder nicht gekommen sind, wenn sie hätten eingreifen müssen, nicht nur um Leben, sondern um das grundlegend Menschliche zu retten. Auf Haiti hatten die Friedenstruppen in einem Quartier mit dem schönen Namen Cité Soleil, einem Slum von Porte-au-Prince, 22.000 Kugeln verschossen. Einige dieser Kugeln trafen Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, andere trafen Unbeteiligte. Es sollen bis zu siebzig Menschen gestorben sein, darunter auch Kinder. Die Operation Iron Fist sei ein Massaker gewesen, meinen Menschenrechtsgruppen. Es sei ein Erfolg gewesen, meint Heleno.

Seitdem die allgemeinen Menschenrechte verkündet wurden, hat es immer Mittel und Wege gegeben, diese zwar anzuerkennen, aber doch bitteschön nicht für alle. Immer wieder haben sich Ideologien von rechts wie von links ihren richtigen Menschen geschaffen. Sie haben aussortiert, wer diesem Richtigen nicht entsprach. Der Mensch ist aber nicht zuerst richtig, er ist vor allem Mensch, fehlbar, verletzlich, hilflos, sanft, oft mittelmäßig und ja, mitunter sogar böse oder sagen wir boshaft, eigennützig, nachtragend und rachsüchtig. Genau davon erzählt Literatur, sie erzählt nicht vom richtigen Mensch, sondern vom Menschen. Sie erzählt von all jenen, die daran scheitern, die richtigen Menschen zu sein, oder zum Scheitern verdammt werden, sie erzählt auch von jenen, die das Richtige zu definieren versuchen, in ihrem Wunsch nach Ordnung, Gewalt und Herrschaft. Literatur erzählt davon, wie Menschen an sich selbst scheitern oder zugrunde gehen, und ja, manchmal werden sie auch glücklich aneinander, zumindest für den Moment. Ganz sicher muss sie gerade nicht definieren, was der richtige Mensch ist, auch wenn es das gibt in Romanen, die dann aber vielleicht eher ideologisch als literarisch zu nennen wären. Sie muss Menschen nicht definieren, sondern darf sie zeigen in ihrer ganzen Zerrissenheit, in ihrer Verlorenheit zwischen dem, was mutmaßlich richtig und dem, was mutmaßlich falsch ist. Literatur darf zweifeln und sie darf auch verzweifeln. Sie ist nicht verpflichtet, Hoffnung zu geben, auch wenn es schön ist, wenn sie das kann.

Und ich gebe zu: Als ich die Arbeit zu meinem letzten Roman beendet hatte, in dem ich mich mit dem wiederholten Scheitern der UNO im Anblick schlimmster Gräueltaten befasst hatte, mit Ohnmacht, persönlicher und institutioneller, mit dem, was innerhalb kürzester an Vernichtung möglich ist zwischen Menschen und mit dem so hartnäckigen Umstand, dass es offensichtlich immer wieder geschieht, was nie wieder geschehen sollte, Kriegsverbrechen und Völkermord, plus jamais, never again, dass es mir mit der Zeit so viel mehr eine menschliche Konstante zu sein schien als unsere Fähigkeit zum Frieden, da war es mit meiner Hoffnung vorbei. Ich war vollständig leer. Ich kultivierte keine leere Hoffnung, ich gab das Prinzip Hoffnung gänzlich auf. Sie war einfach verbraucht, bis ins Letzte, die Hoffnung darauf, dass das menschliche Miteinander nicht vor allem aus dem Zufügen von Leid besteht. Und auch, wenn es im Vergleich klein wirken mag: Auch die Hoffnung in die Literatur und ihre Kraft, die mal eine transformatorische, mal eine aufklärerische, mal eine tröstende ist, gab ich verloren.

Die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler, hat Antonio Gramsci einmal bemerkt. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, ich glaube, sie hat Schüler, aber die Geschichte lehrt eben nicht nur dieses: Nie wieder, es lehrt für die, die es möchten, Umsturz, Unterdrückung, Überlegenheit, Indoktrination. Sie unterrichtet Revolutionstheorie, Willkürherrschaft, Massenmord und wie sich all das als legitim behaupten lässt. Sie unterrichtet, dass man wunderbar von Menschenrechten sprechen kann, von Freiheit, Würde und Gleichheit aller, wenn man nur eben sortiert, wem diese Rechte, die Würde und die Freiheit zustehen, und wem nicht, wer gar nicht unter den Begriff des Menschen zu fassen ist oder weshalb, wie dies in China der Fall ist, der Mensch als Einzelner misshandelt werden darf, wenn dies dem Recht des Kollektivs oder vielmehr der Partei dient.

Während der Arbeit an meinem letzten Roman oder weiter gesagt: während der Arbeit an meinen letzten Büchern habe ich beeindruckende Menschen getroffen, aber ich habe auch viel Zynismus, Geltungshunger und Selbstherrlichkeit kennengelernt. Einige haben sich selbst gern als Weltretter gesehen, dabei nur falsche Hoffnung verkauft, weil der Handelspreis dafür gerade gut stand. Andere haben weggesehen. Wieder andere haben gezielt Hass geschürt. Mit Worten kann so vorzüglich gelogen und manipuliert werden, und immer wieder ist im Namen des Richtigen nichts anderes geschehen, als eigene Machtansprüche durchzusetzen auf Kosten anderer Menschen, ihrer Hoffnungen, ihrer Wünsche und ihrer Unversehrtheit.

Hoffnung sei gar nicht so gut, wie wir immer meinten, hat mir einmal eine Freundin gesagt. Sie binde nur Energie, und wir hielten uns an etwas, das gar nicht mehr mit der Wirklichkeit in Bezug stünde. Ja, das mag sein, und von den drei Stufen, die ich gelernt habe als berufliche Entwicklung innerhalb der UNO (aber sicher nicht nur da), vom Idealismus zum Pragmatismus zum Zynismus, halte ich den Pragmatismus in der Wirklichkeit vielleicht sogar für die beste Stufe. Doch Literatur hat ja gerade die Kraft, das, was auf der planen Fläche der Wirklichkeit geschieht, zu übersteigen und zu durchdringen. Sie kann Utopien schaffen, ja, allerdings ist mein Wunsch danach vorsichtiger geworden. Literatur hat aber vor allem die Kraft, uns ins Herz zu sehen ebenso wie dorthin, wo alles, was wir mit dem Herzen verbinden, aufhört, in die Abgründe und auf die Versteinerungen unserer Gefühle wie unseres Denkens.

„Es ist nicht in uns, es ist zwischen uns, vor uns, es ist da, man kann es lesen, man kann es hören, es ist in den Beschlüssen, den Anordnungen, den Dienstvorschriften, den Funktionszusammenhängen, den Einreiseformalitäten, den Fahrplänen, den Beförderungsbestimmungen“, sagte Lukas Bärfuss kürzlich in seiner Rede zum Büchner-Preis. Zwischen uns. Diese Perspektiv-Verschiebung, die sich nur in diesem kleinen, ja unscheinbaren Wort äußert, vom Innen zum Zwischen wandert, überraschte mich und schien mir zugleich unmittelbar plausibel. Hier wird der Raum hinterfragt, in dem wir agieren, in dem überhaupt möglich werden kann, was so vernichtend und gegeneinander gewandt ist. Und dennoch ist ja das, was da ist, die Dienstvorschriften, Funktionszusammenhänge, die Säle der Menschenrechtsausschüsse von Parlamenten und Vereinten Nationen und nicht zuletzt die Menschenrechte selbst, ihre ganze Universalität, eben auch davon abhängig, wer sie liest, wer sie hört, wer sie anwendet, gelten lässt, und für wen.

Und dann, gleichwohl, steckt die stetige Doppelbödigkeit ja auch in den Beschlüssen, in der Ambivalenz oder Dialektik der Werte, auch jener, die wir als große Errungenschaften ansehen. Wenn man mit den Menschenrechten die Menschen zu definieren beginnt, beginnt man auch, das zu definieren, was nicht dazu gehört, nicht dazu gehören soll. Oder wie es Toni Morrison beschreibt: „Die Menschenrechte, zum Beispiel, ein Organisationsprinzip, auf das die Nation sich gründete, waren unausweichlich an den Afrikanismus gekoppelt. Seine Geschichte, sein Ursprung wird ständig mit einem anderen verführerischen Konzept verbunden: Der Hierarchie der Rassen. (…) Das Konzept der Freiheit entstand nicht in einem Vakuum. Nichts rückte die Freiheit derart ins Licht wie die Sklaverei – wenn sie sie nicht überhaupt erst erschuf.“ [1]

Wie verlassen wir dieses Dilemma? Vielleicht können wir das Dilemma nicht lösen, und damit will ich nicht sagen, dass ich es gut heiße, nur will ich meinen, dass die Lösung weder jene ist, die Menschenrechte aufzukündigen, ihre Universalität allein als westliche Hegemonie anzuprangern, noch ist die Lösung jene abzuleugnen, dass Menschen immer wieder den Wunsch entwickeln, richtiger zu sein als andere. Ich glaube allerdings, niemand ist gänzlich unversehrt, so wenig, wie irgendjemand gänzlich gut oder eben „richtig“ und „passend“ ist, es gibt nur einige, womöglich viele, die ihre eigene Unversehrtheit vorgeben oder ihr vollkommen schattenloses Dasein, ihren festen Stand auf der ganz und gar richtigen Seite. Darum ist die Literatur, die mich interessiert, jene, die von der uns je eigenen Fähigkeit zur Verletzlichkeit wie zur Verletzung berichtet, und ich glaube, davon berichtet Literatur meistens, ich glaube, genau das ist es, was ein paar von uns zu dieser doch höchst merkwürdigen Tätigkeit drängt, tagaus tagein allein am Schreibtisch zu sitzen und mit Schattenfiguren durch die Welt zu gehen, Figuren, die eben auch aus unserem eigenen Dunkel entspringen. Literatur berichtet nicht davon, wie wir passende Menschen sind, sondern von unseren Widrigkeiten, Fehlbarkeiten und Verwundbarkeiten, und eben darum kann sie, auch wenn sie nicht immer schön und hoffnungsfroh ist, uns ein Halt sein.

Ich danke Ihnen für die Auszeichnung und Ermutigung, mit dieser höchst merkwürdigen Tätigkeit fortzufahren.

__________
[1] Toni Morrison. Im Dunkeln spielen. S. 65. Hamburg 1994.


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